Forschen in Jülich 3|20128 Artmann interessierte sich als Bio- physiker dafür, welche Mechanismen und Stoffe im Blutkörperchen für diese Umwandlung verantwortlich sind. In je- ner Nacht wollte er speziell erkunden, ob die Temperatur beeinflusst, wie schnell das Blutkörperchen wieder in die Scheib- chenform zurückfindet. Das wäre ein Hinweis darauf gewesen, dass bestimm- te Enzyme an dieser Rückumwandlung beteiligt sind. Bei 36 Grad verlief das Experiment planmäßig, aber dann wiederholte Art- mann es mit dem gleichen Blutkörper- chen bei 37 Grad. „Das Blutkörperchen drang in die Pipette ein und – zu unserer großen Überraschung – durchquerte sie mit nur wenigen Sekunden Aufenthalt“, erinnert sich Artmann. Da er seine ge- planten Untersuchungen nur mit Blutkör- perchen durchführen konnte, die in der schmalen Spitze steckenblieben, ver- suchte er es weiter. Aber, so Artmann: „Nur zehn von hundert Blutkörperchen verhielten sich so, wie wir es wollten.“ Bei 39 Grad schlüpften gar alle Zellen ungehindert durch den Engpass. SELTSAMES PHÄNOMEN Mit der Geisterstunde hatte der selt- same Effekt nichts zu tun, wie sich in unzähligen späteren Experimenten be- stätigte. Artmann: „Wir wussten anfäng- lich natürlich nicht, dass wir uns mehr als 15 Jahre mit dem Phänomen be- schäftigen würden.“ Zunächst galt es einzugrenzen, wel- cher Teil des Blutkörperchens – die um- grenzende Membran, das Zellgerüst oder das Hämoglobin – für das Phäno- men verantwortlich ist. Naheliegende Annahme war, dass die sprunghaft stei- gende Verformbarkeit der Blutzellen auf strukturellen Umbauten in ihrer Hülle oder ihrem Gerüst beruht. Doch die For- scher der Fachhochschule Aachen konn- ten 1998 in Zusammenarbeit mit Wis- senschaftlern um Prof. Shu Chien von der University of California, San Diego, zeigen: Anders als erwartet ist der Effekt auf das Hämoglobin zurückzuführen. Das sauerstofftransportierende Protein ändert in konzentrierten Lösungen zwi- schen 36 und 37 Grad seine Fließeigen- schaften abrupt. Das warf zunächst zwei Fragen auf: Lässt sich diese sprunghafte Verände- rung der Fließeigenschaften auch beim Hämoglobin anderer Lebewesen beob- achten? Falls ja: Findet sie bei der glei- chen Temperatur wie beim Menschen statt? Die Antworten gaben die Forscher erstmals in Fachartikeln von 2004 und 2006: Darin berichteten sie, dass sie beim Hämoglobin des Schnabeltieres die Eigenschaftsveränderung auch ge- funden hatten – bei 33 Grad. Das Hämo- globin für ihre Untersuchungen stamm- te von Exemplaren, die im Zoo von San Diego lebten. 2007 dann zeigten die Forscher mit einer vergleichsweise ein- fachen Methode, dass bestimmte spiral- förmige Bereiche des Hämoglobins nahe der Körpertemperatur des jeweiligen Lebewesens etwas von ihrer starren Ordnung verlieren. Daraus ergibt sich sofort eine neue Frage. Wie genau „schafft“ es das Hä- moglobin der verschiedenen Lebewesen, diesen Mechanismus an die jeweilige Körpertemperatur anzupassen? Die Idee, mit Hilfe der sogenannten Neutronen- streuung neue Einsichten in die ver- schiedenen Hämoglobin-Arten zu erhal- ten, hatte der Strukturbiologe und Biophysiker Prof. Georg Büldt vom For- schungszentrum Jülich, der mit Artmann in Kontakt stand. Mithilfe von Neutronen können Wissen- schaftler die Anordnung von Atomen in Materialien ermit- teln. Sie können aber auch er- kunden, wie sich die Atome in den Stoffen bewegen (siehe „Die Methoden der Neutronenfor- scher“, S.10). 32°31°30° Neutronenstreuexperimente unter- stützen viele Wissenschaftsdisziplinen darin, die Herausforderungen unserer modernen Technologie-Gesellschaft zu bewältigen. So helfen sie, • neue Batterien, Katalysatoren und Speichermaterialen für die Energie- technik zu entwickeln. • neue elektronische und magnetische Materialien für die Informationstech- nologie der Zukunft hervorzubringen. • Nano-Bauelemente für Elektronik und Medizin zu entwerfen. • leistungsfähigere weiche Materiali- en – beispielsweise Kunststoffe und Reinigungsmittel – herzustellen. • robustere und verschleißfreiere Metalllegierungen und Keramiken zu entwickeln sowie auftretende Schäden zu erkennen. • biomedizinische Prozesse besser zu verstehen. Vom Nutzen der Neutronen KROKODIL 25°–34° C